Mit einem Grossaufgebot an Chor und Orchester erzählt «Chowanschtschina» (1886) den von einigen machthungrigen Männern erbittert geführten Kampf um die Zarenkrone als wuchtiges Geschichtspanorama. Modest Mussorgski, einer der bahnbrechendsten russischen Komponisten seiner Zeit, erstellt dabei – wie bereits in seiner ersten Oper «Boris Godunow» – ein Konzentrat russischer Historie, das im Vergangenen das Gegenwärtige aufzeigt und vom ewigen Kreislauf der Geschichte zeugt.
Im Machtvakuum nach einem Putschversuch wird Russland durch die Machtspiele zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern zerrieben. Vorne weg: der konservative Anführer der Zarengarde, Iwan Chowanski – Protagonist der «Chowanschtschina» (übersetzt etwa «Die Chowanski-Affäre»). Alle Figuren treibt der zentrale Konflikt um, das Eigene bis zur Selbstzerstörung in Abgrenzung zum «Anderen» zu definieren. Leidtragende des Machtstrebens der starken Männer und des Aufeinanderprallens entgegengesetzter Ideologien sind die einfachen Bürger – die eigentlichen Hauptdarsteller von «Chowanschtschina».
Mussorgski folgt der Handlung mit einer dichten und klangfarbenreichen Musik, die in der russischen Musiktradition wurzelt und doch weit in die Zukunft blickt. Immer wieder scheint in ihr die Sehnsucht nach einer gerechteren Welt durch – etwa, wenn «Morgendämmerung und Sonnenaufgang» im Vorspiel der Oper einen Hoffnungsschimmer verkünden – selbst wenn am Ende der Oper eine welt in Flammen steht.
Mussorgski legt einen Fokus auf das Volk als Spielball der Mächtigen und scheint in seiner «Chowanschtschina» dabei eine Gesellschaft herbeizusehnen, die sich «von unten» zu erneuern im Stande ist. Das Bewusstsein, dass derartige Erneuerungsversuche in der Geschichte immer wieder scheiterten, mag dazu beigetragen haben, dass Mussorgskis «opus magnum» unvollendet geblieben ist – ein Fragment, dem Igor Strawinsky später eine Schlussszene und Dmitri Schostakowitsch die Instrumentation hinzufügten.
Der junge russische Regisseur Vasily Barkhatov, der nach grossen Erfolgen in Russland 2015 erstmals in Westeuropa inszeniert, wird diese auf den ersten Blick so urrussische Oper in Basel als universelle, zeitlose Geschichte über Macht, die mit allen Mitteln verteidigt werden will, erzählen. Die musikalische Leitung hat ebenfalls ein junger Künstler, der zunehmend an grossen Opernhäusern präsent ist: der ukrainische Dirigent Kirill Karabits.
Mit freundlicher Unterstützung: Stiftung zur Förderung der Basler Theater
HANDLUNG
VORGESCHICHTE
Den geschichtlichen Hintergrund des «Musikalischen Volksdramas» bilden die Jahre 1682 bis 1689 in Russland. Nach dem Tod von Zar Fjodor III. kam es zu erbitterten Machtkämpfen um die Krone. Einen volljährigen Thronfolger gab es nicht. Auf den Thron wurden die beiden Halbbrüder Iwan und Peter gesetzt, die zu zwei zerstrittenen Familien (Miloslawski und Naryschkin) gehörten und nur durch ihren Vater, Zar Alexei I., miteinander verwandt waren. Da sie noch minderjährig waren, wurde als Regentin Iwans Schwester Sofia eingesetzt. Sie verliess sich auf die «Strelitzen» (Bogenschützen), die Palastgarde, deren Anführer Iwan Chowanski war. Sofia wollte alleinherrschende Regentin werden und provozierte die «Strelitzen» zu einem Aufstand, bei dem im Verlauf einer einzigen Nacht der Grossteil von Peters Familie und Vertrauten getötet wurde.
Zur selben Zeit kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der offiziellen Kirche und den sogenannten «Altgläubigen» (Raskolniki). Jahrzehnte zuvor hatte die anerkannte, offizielle Kirche eine Reform durchgeführt, im Rahmen derer Kirchenbücher korrigiert und Rituale geändert worden waren. Viele Gläubige akzeptierten diese Reform nicht und wurden von der offiziellen Kirche ausgeschlossen und verfolgt.
ERSTER AKT
Soldaten rühmen sich der Morde, die sie nachts zuvor bei einem Aufstand mit ihrem Anführer Iwan Chowanski verübten. Um Iwan Chowanski zu denunzieren und den Zarenhof über dessen Putschplane zu informieren, diktiert der entmachtete Bojar Schaklowity einem Schreiber einen Brief. Auch das Volk erfährt von den Taten Iwan Chowanskis und feiert ihn als Befreier von der Knechtschaft durch die Feudalherren. Chowanskis Sohn Andrei hat seine Geliebte Marfa fallengelassen und will die deutsche Lutheranerin Emma zur Liebe zwingen. Marfa wird Zeugin seiner Annäherungsversuche an Emma. Als auch Iwan Chowanski Gefallen an Emma findet, kommt es zum Streit zwischen Vater und Sohn, der durch das Erscheinen Dossifeis, des geistigen Anführers der «Altgläubigen», beendet wird. Dossifei beauftragt Marfa, sich um Emma zu kümmern und ermahnt das Volk zur Gottesfurcht.
ZWEITER AKT
Golizyn, ein ebenfalls machthungriger Fürst und dem modernen Europa zugeneigt, erhält einen Brief der Zarewna Sofia, deren Liebhaber er ist. In Erwartung einer konspirativen Zusammenkunft mit Iwan Chowanski und Dossifei, bei der es um die Aufteilung der Macht nach ihrem geplanten Sturz Zar Peters I. gehen soll, lässt sich der abergläubisch-furchtsame Golizyn von Marfa die Zukunft wahrsagen. Als diese ihm seinen Untergang prophezeit, schickt der entrüstete Golizyn sie verärgert fort.
Bei der Versammlung der Putschisten entbrennt ein heftiger Streit um die Zukunft Russlands, bei der es zu keiner Einigung kommt. Unerwartet kehrt Marfa zurück und berichtet von den nahenden Truppen Zar Peters I., den «Petrowzen». Schaklowity verkündet, Zar Peter I. habe von der politischen Verschwörung erfahren, und werde die «Chowanschtschina» (= Affäre Chowanski) bestrafen.
DRITTER AKT
Marfas Leidenschaft für Andrei Chowanski ist ungebrochen. Als Susanna, eine fanatische Anhängerin Dossifeis, das Ausmass von Marfas Hingabe erkennt, erhebt sie vor Dossifei Anklage, der jedoch für Marfa Partei ergreift. Ein gemeinsamer Selbstmord mit Andrei erscheint Marfa als die einzig mögliche Erlösung. Dossifei gebietet ihr Einhalt.
Schaklowity beschwört ein zukünftiges Russland und bittet Gott, die Heimat mithilfe eines starken Herrschers aus der Ohnmacht zu führen.
Chowanskis betrunkene Soldaten randalieren. Ihre wütenden Frauen versuchen, sie zurückzuhalten, doch das wilde Treiben nimmt seinen Lauf. Kuska gelingt es, die Frauen mit seinem Lied zu beschwichtigen. Als jedoch der Schreiber die Nachricht verbreitet, dass die Truppen des Zaren Peters I. im Anmarsch seien, bricht Panik unter Chowanskis Soldaten aus. lwan Chowanski resigniert.
VIERTER AKT
Nach seiner Weigerung, sich den Truppen des Zaren Peters I. entgegenzustellen, zieht sich Iwan Chowanski zurück und sucht Zerstreuung, um seine Angst zu betäuben. Eine Einladung der Zarewna Sofia erweist sich für Chowanski als Botschaft des Todes. Auch Golizyn ereilt sein von Marfa vorhergesagtes Schicksal. Einzig Dossifei scheint keine Widersacher mehr zu haben, bis Marfa ihm berichtet, Zar Peter I. habe den Entschluss gefasst, ihn und seine Anhänger umzubringen. Dossifei beschliesst daraufhin den Tod von sich und seinen Anhängern durch kollektiven Selbstmord. Marfa unterrichtet Andrei vom Tode seines Vaters. Andrei erkennt, dass alles verloren ist und lässt sich von Marfa wegführen.
FÜNFTER AKT
Dossifei, Andrei und Marfa sowie andere «Altgläubige» verlassen ihr irdisches Dasein. Die Rettung, die Marfa Andrei verheissen hat, liegt im gemeinsamen Tod.