«Meine liebe Elisabeth! Fürchte nicht etwa, dass ich verrückt geworden bin, obwohl ich dir hiermit die absonderlichste Idee mitteile, die je ein weibliches Menschenkind gefasst. Höre und staune! Ich bin auf dem Punkt, eine Reise um die Welt zu unternehmen! ... Mir scheint, als ob ich mich vor nichts mehr fürchten könnte, und ganz gewiss werde ich nicht mehr zögern. Vorwärts soll von nun an mein Losungswort sein!»
Disziplin, Pflichtbewusstsein und unverwüstlicher Optimismus: die wichtigsten Tugenden, um Ende des vorigen Jahrhunderts als alleinstehende Dame eine Weltreise zu unternehmen, ohne Geld und ohne Protektion. Lina Bögli, aus Oschwand im Kanton Bern stammend, Hausdame einer polnischen Adelsfamilie, verlässt Krakau am 12. Juli 1892 und kehrt genau 10 Jahre später wieder zurück. Dazwischen hat sie die Welt bereist, hat Ceylon, Australien, Neuseeland, Samoa und Hawaii gesehen, Nordamerika und Kanada durchreist. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Gouvernante und Lehrerin. Den polnischen Offizier, den sie zunächst auf Rücksicht auf seine Karriere nicht heiraten wollte, nimmt sie auch zehn Jahre später - trotz unvermindert grosser Liebe - nicht zum Mann. Unterwegs durch die Welt, hat sie ihre Unabhängigkeit schätzen gelernt.
Ihren Reisebericht in Briefform schrieb sie auf englisch, 1904 erschien er unter dem Titel «Forward» und wurde in neun Sprachen übersetzt. (Der Zürcher Verlag eFeF legte dieses Buch, nachdem es lange vergriffen war, unter dem Titel «Talofa» 1990 neu auf.) Verblüffend ist die eigentümliche Mischung aus Wagemut und Vorurteil, Abenteuerlust und Konvention. Bis zum Ende ihrer Reise versteht sie nicht, warum nicht die ganze Welt wie die Schweiz ist. «Ich gestehe ganz offen, dass ich noch immer eine schöne Schweizer Tanne oder Eiche diesen himmelragenden Palmen vorziehe.»
«Nicht zuletzt dieser Widerspruch zwischen Weitläufigkeit und Enge mag Christoph Marthaler gereizt haben, sich mit Lina Bögli zu befassen», schrieb Produzentin Renate Klett in ihrer Ankündigung. Weggehen und Wiederkommen, Nähe und Ferne und die Austauschbarkeit der beiden sind Themen, die Marthaler bei seiner ersten Arbeit nach dreijähriger Abwesenheit in Basel beschäftigten. Wie das gestrenge Fräulein Bögli mit ihren aufsässigen Schülern umgeht, und wie sie dem penetranten Radiosprecher wieder und wieder den Strom kappt, sobald der ihre private Geschichte in die Öffentlichkeit tragen will, und wie die zarten Gesänge eines Schweizer Knaben auf die Härte der Situationen trifft — all das fügt sich in die liebevolle Betrachtung einer grosser Zerissenheit.
«Lina Böglis Reise» ist eine Produktion von «Welt in Basel» 1996. Nach den Aufführungen im Prater der Volksbühne in Berlin folgte die Einladung zum Berliner Theatertreffen. Mit den Aufführungen im Buffet des Badischen Bahnhofs bietet sich nun noch einmal die Gelegenheit, «Lina Böglis Reise» am Enstehungsort zu sehen.