Gerlind Reinshagen hat ihr jüngstes Stück über junge rebellische Menschen geschrieben, die im Alter von achtzehn sind und sich mit dem Leben nicht abfinden. Gerlind Reinshagen nennt sie Poritaner. Sie leben in der grossen Stadt in einer Baracke. Sie schneiden sich das Haar ab, tragen Arbeiterkleidung. Sie hungern. Sie sitzen im Müll. Sie pflegen die Kranken, die an einem Fieber sterben, das in der Stadt ausgebrochen ist. Sie haben wie jede Gruppe Helden und Anführer. Das Mädchen Elli läuft fort von ihren Eltern. Sie lebt mit den Ausgeschlossenen ein neues Leben. Sie erlebt, dass es schwer ist, das Anstössige zu tun, nämlich die verschwiegene, zugelogene Unterseite des Wohlstands zu provozieren. Die Jungen haben «den Aufruhr im Kopf». Sie sind «der wilde Trieb am Baum der Gesellschaft». Die von Gerlind Reinshagen erfundenen Poritaner enthalten alle Träume und alle Leiden aller Jugendbewegungen: Die Freiheit und den Gruppenzwang, die Radikalität und die Selbstverzehrung. Einmal will Elli zu den Eltern zurückkehren. Da wird sie zum kleinen Kind. Ihr Zuhause ist nicht mehr dort. Aber von den Jungen, die in Lumpen auf der Strasse sitzen, wird sie zynisch empfangen. Elli verbrennt sich selber. Sie verbrennt an diesem Konflikt.
«Warum seit dem ersten Stück («Doppelkopf» 1968) von vor zwanzig Jahren nun wieder Gruppendialoge und eine Art chorischer Sprache? Weil sich erstens unsere Geschichten in den letzten Jahrzehnten rapide und grundlegend geändert haben. Weil sich zweitens die Sprache nach den Geschichten zu richten hat. Nicht mehr allein der Dialog zwischen zwei Personen ist es; viel problematischer erscheint oft das Gespräch, das ein einzelner (im Büro, in der Schule, in der Fabrik) mit vielen führen muss. Die Meinungen der vielen sind es, die mich interessieren; wie sie sich bilden, sich verändern und verstärken können. Wie sie schliesslich vertraut erscheinen. Warum seit dem vierten Stück («Sonntagskinder» 1976) vor mehr als fünfzehn Jahren nun wieder Kinder oder Noch-Kinder als Hauptfiguren? Weil sich, nach allem, was ich beobachtet habe, in der Innenwelt der Kinder wenig oder nichts verändert hat. Auch wenn sie heute kaum davon sprechen, ist in jedem noch die Vorstellung vom Ideal verborgen, das gelebt werden Will und doch scheitern muss. Diesen Bruch beschreibe ich immer noch.»
Gerlind Reinshagen, April 1992
Gerlind Reinshagen schreibt seit 1966 für das Theater. Sie wurde bekannt mit dem Stück «Doppelkopf» und in den siebziger Jahren mit ihrer Nachkriegstrilogie «Sonntagskinder», «Frühlingsfest» und «Tanz, Marie». Sie hat immer von Menschen, meist Frauen oder Mädchen erzählt, die sich nicht anpassen können, die zwischen den Stühlen sitzen und auf unschuldige Weise obsolet werden.